Diabetes im Gefängnis: „Bei vielen fängt man quasi bei Null an“

Eigene Gesundheit hat für Insassen oft keine hohe Priorität

HAMBURG.  Wer eine Gefängnisstrafe verbüßt, hat wenig Einfluss auf Art und Zeitpunkt von Mahlzeiten, kann nur zu festgelegten Zeiten Sport treiben und darf kein Smartphone nutzen. Was bedeutet das für Gefangene mit Diabetes? Und wie beeinflussen diese Rahmenbedingungen die medizinische Versorgung hinter Gittern? Unsere Autorin hat sich in zwei Hamburger Haftanstalten umgesehen. 
 

Antje Thiel

Hohe, mit Nato-Draht gesicherte Mauern und Zäune umgeben das Hamburger Untersuchungsgefängnis. Im Innern dieser Justizvollzugsanstalt (JVA) gibt es ein Zentralkrankenhaus und eine Ambulanz, wo die Gefangenen medizinisch versorgt werden. Hier bin ich mit JVA-Bediensteten verabredet, die mir Einblick in ihre Arbeit gewähren wollen. Am Eingang muss ich Personalausweis und Smartphone abgeben. Aus Sicherheitsgründen gilt für alle hinter Gittern striktes Handyverbot. 

Strenge Regularien für Pumpen und CGMS – aber kein Budget 
Die strengen Regularien erschweren den Einsatz von Insulinpumpen oder CGM-Systemen im Gefängnis. Andererseits gibt es keine Budgets oder vergleichbare Beschränkungen. Die Anstaltsärztin kann also z.B. auch Gefangenen mit Typ-2-Dia­betes, die nicht mit Insulin behandelt werden, Teststreifen für regelmäßige BZ-Messungen verordnen. 

Internistin Dr. Sabine Jägemann weiß das zu schätzen: „Ich kann hier ärztlich ziemlich frei walten.“ Das Spektrum der Erkrankungen, die sie behandelt, umfasst Infektionskrankheiten wie Hepatitis und Tuberkulose, Hypertonie, Frakturen, infizierte Wunden sowie die Folgen von Alkohol- und Drogensucht. Viele der Insassen sitzen wegen Drogendelikten in U-Haft. Andere verbüßen Ersatzfreiheitssrafen wegen Bagatellvergehen, weil sie die verhängte Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Ein Großteil der Gefangenen hat eine andere Muttersprache als Deutsch, etliche können kaum lesen, schreiben und rechnen.

Diabetestherapie nach möglichst einfachem Schema
„Den meisten Patienten hier ist ihre Gesundheit eher egal, die haben ganz andere Sorgen“, sagt die Internistin. „Für viele ist es tatsächlich ein Segen, in U-Haft zu kommen. Hier können sie einen Drogen- oder Alkoholentzug machen und ihre Erkrankungen behandeln lassen.“ 

Über Gefangene mit Diabetes sagt sie: „Wir haben es hier meist mit einem verwahrlosten oder noch gar nicht eingestellten Diabetes zu tun.“ Sie versucht daher, die Therapie auf ein möglichst einfaches Schema herunterzubrechen, ohne Kohlenhydratschätzungen und Insulinfaktoren. „Wenn die Werte damit überwiegend unter 200 mg/dl liegen und die Leute nicht unterzuckern, bin ich ers mal zufrieden.“

Unmittelbar nach der Inhaftierung geht es ohnehin eher um die Frage, ob die Gefangenen überhaupt Insulin mit in ihre Zellen nehmen dürfen. „Wenn jemand aufgrund psychischer Auffälligkeiten suizidal ist, dann wird ihm erst einmal alles weggenommen. Gerade die ersten Tage in Haft sind da kritisch“, erklärt die Ärztin. In einem solchen Fall übernehmen Pflegekräfte die Insulin­injektionen, bis sich die neuen Insassen halbwegs eingewöhnt haben.

Suchtdruck oft stärker als der Wunsch nach Gesundheit
Dann nimmt auch die Krankenschwester und Diabetesassistentin Christine Seidel Kontakt mit ihnen auf. „Einige haben Vorkenntnisse, bei anderen fängt man quasi bei Null an.“ Oft erscheinen Gefangene nicht zu vereinbarten Terminen. „Dabei ist es doch wichtig, dass sie sich mit ihrer Krankheit auseinandersetzen!“ Seidel weiß allerdings auch: „Insbesondere Drogenabhängigen fällt das sehr schwer. Der Suchtdruck ist stärker als der Wunsch nach Gesundheit.“
Der Alltag hinter Gittern ist strikt reglementiert. Das Essen kommt aus der Gefängnisküche, zusammen mit der Mittagsmahlzeit gibt es eine „Tagestüte“ für Abendbrot und Frühstück. Eine Stunde am Tag ist Hofgang. Gehen ist erlaubt, Joggen nicht – das würde in dem kleinen Hof die Ordnung stören. Die Sportgruppen haben feste Zeiten.

Wie es sich anfühlt, unter Haftbedingungen seinen Diabetes zu managen, erfahre ich ein paar Wochen später in der offenen Vollzugsanstalt Glasmoor, wo ich Enrico Meißner* besuche. Der 44-Jährige lebt seit 23 Jahren mit Typ-1-Diabetes und ist vor acht Monaten vom geschlossenen in den offenen Vollzug gewechselt. Hinter ihm liegen U-Haft und mehrere Jahre regulärer Knast. Mit seiner Entlassung kann er in spätestens 18 Monaten rechnen. Draußen warten seine Ehefrau und Kinder auf ihn, mit denen er als Freigänger fast jedes Wochenende verbringt.

Freie Arztwahl nur mit Arbeitsvertrag „draußen“
Bevor er sich auf seine kriminelle Karriere konzentrierte, war mein Gesprächspartner eine Weile im Garten- und Landschaftsbau tätig. Er würde gern schon jetzt wieder in dieser Branche Fuß fassen: Mit einem Arbeitsvertrag „draußen“ wäre er wieder regulär krankenversichert und hätte freie Arztwahl. Aktuell arbeitet Meißner jedoch in einem anstaltseigenen Betrieb – für seine medizinische Versorgung ist daher die JVA-Ambulanz zuständig.

„Die Pflegekräfte hier machen einen Spitzenjob, denen gilt mein größter Respekt“, betont er. Doch mit dem Anstaltsarzt komme er nicht gut zurecht. Er wünscht sich mehr Aufmerksamkeit und Medikamente für seine Psychosen und Schlafstörungen – auch um seine Blutzuckerwerte besser in den Griff zu bekommen. Denn Meißner macht die psychischen Störungen für seine Insulinresistenz verantwortlich.

Allerdings ging es mit seinem Dia­betes schon immer auf und ab. „Meine Probleme sind nicht durch die Haft entstanden“, gibt er zu. Lange ließ er den Dia­betes schleifen. Das hat Spuren hinterlassen: Meißner hat eine Retinopathie und eine periphere Neuropathie. Um sein Diabetes­management zu verbessern, würde er gern „draußen“ an einer Nachschulung teilnehmen. 

Doch das JVA-System lässt nur eine Schulung im Untersuchungsgefängnis zu – für ihn schwer vorstellbar, nachdem er sich an die Freiheiten des offenen Vollzugs gewöhnt hat. Dazu zählen weniger Einschränkungen bei sportlichen Aktivitäten – auch außerhalb der Gefängnismauern. Meißners Herz schlägt für das pädagogische Boxen: ein Projekt, das Präventionsunterricht mit Boxtraining kombiniert und bei dem Gefangene mit jugendlichen Straftätern arbeiten. „Wenn man danach verschwitzt zusammensitzt, bekommen die Gespräche eine ganz andere Qualität“, erzählt der Hobbyboxer. Mit seinem Ehrenamt möchte er der Gesellschaft etwas zurückgeben. „Wenn ich merke, dass ich bei den Kids etwas Positives bewegen kann, ist das ein tolles Gefühl!“

Antje Thiel

* Name von der Redaktion geändert