Wie tief kann man senken?

Aktuelle Erkenntnisse zu den potenziellen Folgen eines niedrigen LDL-Spiegels

Atlanta. Dank moderner Medikamente schaffen es immer mehr Patienten, ihr LDL-Cholesterin auf unter 30 mg/dl zu drücken. Umstritten ist jedoch, ob dies mit einem erhöhten Risiko für Diabetes und Hirn­blutungen erkauft wird.

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Für die lipidsenkende Therapie gilt offenbar: Je geringer das LDL-Cholesterin, desto stärker der kardiovaskuläre Schutz. Ein Grenzwert, ab dem eine intensivere Therapie keinen weiteren Nutzen erzielt, wurde bisher nicht identifiziert. Die Wahl des Medikaments scheint ebenfalls keine große Rolle zu spielen. Allerdings zweifeln viele Kollegen noch an der Sicherheit des aggressiven Vorgehens. Dr. Angelos Karagiannis von der Emory University in Atlanta nahm einige Fakten zusammen mit Kollegen genauer unter die Lupe.

1. Sind Menschen mit niedrigem LDL-C-Wert gesünder?
Es gibt sechs bekannte genetisch bedingte Syndrome, die mit lebenslang sehr niedrigen LDL-Cholesterinspiegeln assoziiert sind. Dazu zählen u.a. Mutationen im PCSK9-Gen. Träger der funktionslosen PCSK-Varianten erleiden z.B. aufgrund der natürlichen Arteriosklerose-Prävention weit weniger kardiovaskuläre Ereignisse, ohne dass generell eine erhöhte Inzidenz neurokognitiver Beeinträchtigungen oder andere Komorbiditäten erkennbar wären. Lediglich eine Studie fand eine Korrelation mit einem höheren Diabetesrisiko. Für andere familiäre Syndrome konnte ebenfalls für keinen der bekannten Folgeschäden ein direkter Zusammenhang mit den niedrigen LDL-Werten nachgewiesen werden.

2. Welche Rolle spielt das even­tuell höhere Diabetesrisiko?
Potenziell kann sich die intensive therapeutische Reduktion des LDL-Cholesterins z.B. auf den Glukosestoffwechsel auswirken. Allerdings ist die Datenlage hierzu widersprüchlich. Eine Metaanalyse zur Statinbehandlung ermittelte beispielsweise einen leichten Anstieg der Diabetesinzidenz. Allerdings wurden gleichzeitig weit mehr Koronarereignisse verhindert als metabolische Störungen neu auftraten. Die Autoren sehen deshalb keinen Anlass für eine Modifikation der Therapie. Als Risikofaktoren für die Entwicklung eines Diabetes während der Statintherapie vermuten sie den BMI und einen bereits vorhandenen Prädiabetes.

Patienten, die mit einem hochpotenten Statin ihr LDL-Cholesterin unter  30 mg/dl senken, erkranken laut einigen Studien möglicherweise häufiger an einem Typ-2-Diabetes. Allerdings wurde Ähnliches auch für Menschen mit niedrigem LDL-C (< 60 mg/dl) ohne Statintherapie im Vergleich zu Kontrollen mit höherem LDL-C (90–130 mg/dl) beob­achtet. Ein Zusammenhang mit dem Ausmaß der Lipidsenkung konnte aber nicht nachgewiesen werden. Selbst eine Reduktion um ≥ 70 % erhöhte das Risiko einer Zuckerkrankheit nicht, wie die Wissenschaftler ausführen. Arbeiten zur Behandlung mit PCSK9-Hemmern zeigten keinen negativen Einfluss auf den Glukosemetabolismus – auch nicht bei Werten unter 30 mg/dl. Außerdem begründen die bisherigen Studien keine Kausalität, weshalb die Autoren für weitere Forschung plädieren.

3. Kommt es bei niedrigen LDL-Spiegeln zu mehr Hirnblutungen?
Zur möglichen Korrelation zwischen niedrigen LDL-C-Werten und Hirnblutungen gibt es keine eindeutigen Resultate. Auch hier braucht es mehr Langzeitstudien, fordern die Autoren. Vereinzelt wird vom erhöhten Risiko für hämorrhagische Schlaganfälle bei niedrigem Cholesterinwert berichtet. Unklar bleibt, welche klinische Bedeutung dies hat und welche Rolle Medikation und populationsspezifische genetische Prädisposition (z.B. bei Asiaten) spielen. So ermittelte eine Metaanalyse für statinbehandelte Patienten ein vermehrtes Auftreten hämorrhagischer Schlaganfälle, gleichzeitig wurde dieses Exzess-Risiko durch die Reduktion ischämischer Insulte mehr als aufgewogen.

Andere Metaanalysen konnten den gefundenen Zusammenhang gar nicht erst bestätigen. In Studien zu dem PCSK9-Inhibitor Alirocumab trugen selbst Patienten mit einem LDL-Cholesterin unter 25 mg/dl kein erhöhtes Risiko für einen hämorrhagischen Insult.

4. Gefährdet man durch die Therapie die Sehkraft oder riskiert Krebs?
Die mögliche Assoziation zwischen beherzter Lipidsenkung und dem Grauen Star bleibt nach Meinung der Wissenschaftler ebenfalls fraglich. In zwei Arbeiten hatten mit einem hochpotenten Statin behandelte Patienten bzw. solche mit einem Wert unter 25 mg/dl jeweils häufiger Kataraktoperationen. Für Alicorumab hingegen ergab eine große Studie keinen Unterschied zur Scheintherapie. Auch in Analysen mit Evolocumab und Ezetimib war die Anfälligkeit für diese okuläre Erkrankung nicht erhöht. Langzeitstudien stehen noch aus. Zu Malignomen, hepatobiliären Erkrankungen, neurokognitiven Störungen, Hypogonadismus und Hämaturie gibt es bisher keine Daten, die einen Zusammenhang stützen könnten.

5. Was spricht dagegen, „all in“ zu gehen?
Einige Studien zeigen eine höhere Mortalität bei stationären Patienten nach einem Herzinfarkt (LDL-C < 77 mg/dl) sowie nach Pneumonien (LDL-C ≤ 21 mg/dl). Da es sich wie in den meisten oben genannten Fällen um Beobachtungsstudien handelt, lässt sich daraus keine Kausalität schließen.

Zu Langzeitsicherheit von Werten unter 15 mg/dl existiert allerdings kaum Evidenz. Außerdem ist derzeit noch unsicher, ob der Nutzen einer Reduktion auf unter 30 mg/dl das möglicherweise höhere Komplikationsrisiko sowie die zusätzlichen Kosten rechtfer­tigt. Nach Einschätzung der Autoren bietet sich diese massive Lipidsenkung vorerst nur für extrem gefährdete Patienten an.

Dr. Dorothea Ranft

Karagiannis AD et al. Eur Heart J 2021; 42: 2154-2169; doi: 10.1093/eurheartj/ehaa1080