Vorteil im Speckgürtel

Das Wohnumfeld wirkt sich auf Häufigkeit diabetischer Ketoazidosen aus

Stuttgart. Wie hoch das Risiko für eine gefährliche Stoffwechselentgleisung bei Manifestation eines Typ-1-Dia­betes steht, scheint nicht allein von den bekannten individuellen bzw. familiären Faktoren abzuhängen. Eine ebenso große Rolle spielen sozioökonomische Parameter sowie die Bevölkerungsdichte am Wohnort.

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Aus einer internationalen Analyse des Jahres 2020 mit 13 Nationen geht hervor, dass die Diagnose Typ-1-Diabetes in 20 % (Schweden) bis 44 % (Luxemburg) der Fälle mit einer dia­betischen Ketoazidose (DKA) einhergeht. „Da liegen wir in Deutschland mit 20 % bis 27 % im guten Mittelfeld“, sagte Professor Dr. Reinhard­ Holl­ vom Institut für Epidemiologie und medizinische Biometrie an der Universität Ulm.

Zu den bis dato bekannten Risikofaktoren für eine erhöhte Ketoazidoserate zum Zeitpunkt der Erstdiagnose zählen neben weiblichem Geschlecht auch ein Alter von unter fünf Jahren und Migrationshintergrund. Als vierten Faktor konnte man ein niedriges Bildungsniveau der Eltern identifizieren.

Durch Letztgenanntes lässt sich bereits erahnen, dass sozialräumliche Besonderheiten – konkret: sozioökonomische Deprivation und Bevölkerungsdichte am Wohnort – mit der Inzidenz der gefährlichen Stoffwechselentgleisung zusammenhängen könnten. In einer Studie mit mehr als 10 500 Patientendaten aus dem DPV-Register hat man offenbar erkannt, dass es tatsächlich nicht nur auf das unmittelbare familiäre Umfeld ankommt, sondern ebenso auf die geografische und die soziale Umgebung der Kinder.

Bei 20 % versus 27 % kommt es zur Ketoazidose
Einbezogen in ihre Analyse hatten Forschende die Angaben zu in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre, die zwischen 2016 und 2019 die Diagnose Typ-1-Diabetes bekamen. Ausgewertet wurde die Häufigkeit der diabetischen Ketoazidose bei Diabetesmanifestation in Zusammenhang mit sozioökonomischer Deprivation und dem Urbanitätsgrad: Großstadt = ab 1500 Einwohner/km2, (Vor-)Stadt = 300–1499 Einwohner/km2 und ländliche Region = weniger als 300 Einwohner/km2. Zur Erfassung der sozioökonomischen Deprivation nutze man den „German Index of Socioeconomic Deprivation“, kurz GISD, mit dem sich Beruf, Bildung und Einkommensverhältnisse auf Kreisebene erheben lassen.

Wie sich zeigte, war die Häufigkeit einer Ketoazidose signifikant mit dem regionalen Status assoziiert: Während es in „privilegierten“ Gebieten bei etwa jeder fünften Diabetesdiagnose zur Stoffwechselentgleisung kam, lag die Rate in sozioökonomisch benachteiligten Landkreisen bei knapp 27 %. „Zum Urbanitätsgrad ließ sich ebenfalls eine signifikante Verbindung mit der Ketoazidosehäufigkeit feststellen. Allerdings nicht linear von Stadt nach Land“, berichtete Prof. Holl. Die niedrigste DKA-Rate fand man demnach in den Speckgürteln von Metropolregionen, gefolgt von den Innenstadtregionen der Großstädte. Die höchste Inzidenz ließ sich auf dem Land verzeichnen. 

Erhöhte Risikorate in ländlichen Regionen
Um die Häufigkeit von Ketoazidosen bei der Manifestation eines Typ-1-Diabetes in Deutschland effektiv zu senken, sollten neben individuellen Risikofaktoren auch sozialräumliche Aspekte berücksichtigt werden, so die Schlussfolgerung des Referenten. „Wir müssen uns mit der erhöhten Risikorate in ländlichen Regionen ebenso auseinandersetzen wie mit der regionalen Deprivation.“ Es gelte, Aufklärung und Früherkennung an die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen anzupassen.

In diesem Zusammenhang erinnerte DDG Präsident Professor Dr. Andreas­ Neu­ an die aktuelle bundesweite Ketoazidosepräventionskampagne der AGPD und des BVKJ: „Wir appellieren an alle, diese Kampagne in die Breite zu tragen – auch zu Lehrkräften an den Schulen und Sportübungsleitern in den Vereinen. Alle sollten über die Symptome einer Diabetesmanifestation Bescheid wissen, damit eine Ketoazidose möglichst vermieden werden kann“, so Prof. Neu. (Anm. d. Red.: siehe auch Interview S. 25).

Antje Thiel

JA-PED 2021