Rätselraten um steigende Inzidenzen

Können Begleitumstände der COVID-19-Pandemie indirekt Typ-1-Diabetes auslösen?

Gießen. Jeweils rund drei Monate nach den ersten drei Coronawellen in Deutschland stieg auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit neu diagnostiziertem Typ-1-Diabetes.Das ergab eine Analyse des DPV-Registers. Antikörper-negative Fälle traten dabei allerdings nicht gehäuft auf.

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Während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie in Deutschland, von Mitte März bis Mitte Mai 2020, beobachteten Forschende noch keinen Anstieg bei den Erstmanifestationen mit Typ-1-Diabetes. Jetzt präsentierte dieselbe Gruppe an Autor*innen Daten mit einer Nachbeobachtungszeit von anderthalb Jahren. Die Auswertungen zeigen, dass während der Pandemie signifikant mehr Kinder an Typ-1-Diabetes erkrankten als erwartet.

Als Datenquelle nutzte das Team um Privatdozent Dr. Clemens ­Kamrath, Justus-Liebig-Universität Gießen, die Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV-Register). Darin werden deutschlandweit u.a. die Neudiagnosen des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 Monaten bis 18 Jahren erfasst. Als Kontrolle dienten DPV-Registerdaten von knapp 23.000 Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 2011 bis 2019. Auf deren Basis berechnete man die zu erwartenden Fallzahlen für die Jahre 2020 und 2021. 

Im Analysezeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2021 wurden im DPV-Register insgesamt 5.162 Kinder und Jugendliche mit neu diagnostiziertem Typ-1-Diabetes registriert. Dies entspricht einer Inzidenz von 24,4 Fällen pro 100.000 Patientenjahren (95%-KI 23,6–25,2) und lag damit signifikant über dem erwarteten Wert von 21,2 Fällen pro 100.000 Patientenjahren (95%-KI 20,5–21,9). Auf einzelne Monate bezogen war das Inzidenzratenverhältnis im Juni 2020, Juli 2020, März 2021 und Juni 2021 signifikant gegenüber den modellierten Erwartungswerten erhöht.

Mehr Neumanifestationen als laut Register zu erwarten war
Damit folgten die höchsten Zahlen jeweils etwa drei Monate auf die Gipfel der COVID-19-Infektionswellen. Während die Diabeteshäufigkeit im Kontrollzeitraum vor allem bei den 12- bis 17-Jährigen zunahm, überstieg die Inzidenz während der Pandemie die Erwartungswerte signifikant in den Altersgruppen unter 6 Jahren und von 6 bis 11 Jahren. Für die 12- bis 17-Jährigen unterschied sie sich nicht von der modellierten Prognose. Es ergab sich für unter 12 Jahre alte Kinder eine signifikant gesteigerte Diabetesinzidenz im Juni bis September 2020 und März bis Juni 2021. Für Jugendliche unter 12 Jahren übertraf sie die Erwartungwerte nur von Juni bis September 2020.
Die Raten an Antiautokörper-Negativität unter den Diabetes-Neudiagnosen in 2020/2021 unterschieden sich nicht von den Raten aus 2018/2019 – auch nicht während der Perioden mit erhöhter Dia­betes­inzi­denz.

Aus welchem Grund in der Pandemie mehr Kinder an Typ-1-Diabetes erkrankten, ist unbekannt. Ein potenzieller direkter Diabetesauslöser wäre eine in Publikationen beschriebene zytotoxische Wirkung von SARS-CoV-2 auf die Betazellen der Bauchspeicheldrüse – ohne eine Autoimmunität. Dagegen spreche jedoch u.a., dass in der vorliegenden Untersuchung keine erhöhte Frequenz Autoantikörper-negativer Erkrankungen festgestellt wurde, so die Autor*innen. Der autoimmunvermittelte Typ-1-Diabetes wiederum entwickele sich in der Regel über lange Zeiträume hinweg. Der Abstand von drei Monaten zwischen den COVID-19-Wellen und vermehrter Diabetesmanifestation lasse daher eher indirekte Auslöser bei Personen mit Vorstufen eines Typ-1-Diabetes in Form einer Inselautoimmunität vermuten, schlussfolgert das Team um Dr. Kamrath. Zum Beispiel die verringerte Häufigkeit anderer Infektionskrankheiten im Kindesalter oder psychische Belastungen infolge der pandemiebedingten Isolation. Beides wurde bereits mit dem Erkrankungsbeginn des Typ-1-Diabetes in Verbindung gebracht.

Dr. Moyo Grebbin

Kamrath C et al. Diabetes Care 2022; dc210969; doi: 10.2337/dc21-0969 y